Wie meine Mutter Weihnachten feierte
Wie meine Mutter Weihnachten feierte Lesezeit: ca. 3 Minuten Weit über hundert Jahre zurück, in einer Zeit, in der man noch nicht mit Euro und Cent, sondern mit Gulden und Kreuzern bezahlte, führt uns die 1848 geborene Tony Schumacher. Sie erzählt davon, wie man in ihrer Jugend Weihnachten feierte.
Autor: Tony Schumacher
Endlich war er da, der ersehnte erste Advent. Wie herrlich war es, wenn an diesem ersten der vier Sonntage vor Weihnachten Mutter am Abend mit schönen weißen Papierbögen hereinkam, diese mit einem langen Papiermesser in Streifen schnitt und sagte:
"Kinder, jetzt werden die Wunschzettel geschrieben!" Jedes von uns bekam einen Bleistift, und nun ging es los, das Besinnen, das eifrige Schreiben, bis das Papier kaum reichen wollte und wir ganz rote Köpfe hatten. Was hatten wir für Wünsche! Wünsche der unsagbarsten Art, von "Für einen Sechser Bärendreck (Süßholzsaft)" bis zu einem Hund oder Geißbock oder gar zu einem Brüderchen oder Schwesterchen. Und während man seine Phantasie walten ließ, war’s schon fast so, als besäße man bereits alle diese Dinge; so leuchtend und greifbar standen sie vor einem. Wenn Mutter die Zettel einsammelte und durchlas und lachend da und dort durch die verwegensten Sachen einen Strich machte und sagte: "Wie könnt ihr dem Christkind zumuten, so was Schweres, Großes oder gar Zappelndes zu tragen", so waren wir’s auch zufrieden. War’s ja doch schön gewesen, sich überhaupt derartiges auszudenken.
Bei Mutter wussten wir unsere Wunschzettel in besten Händen, denn dass sie und das Chrsitkind in enger Verbindung standen, war unser fester Glaube. Wie hätte sie denn auch sonst so oft und ernst sagen können: "Wenn du so bist, so betrübst du das liebe Christkind." Oder aber lustig: "Ich weiß etwas vom Christkind - na Kinder, ihr könnt euch freuen; aber ich darf nichts verraten!"
Und wie wurde dieses Freuen gesteigert! Nach jedem Ausgang, den sie machte, lag ein Stückchen Goldpapier auf dem Boden, das wohl das Christkind verloren hatte, oder wir bekamen ein kleines Bonbon aus "der Tüte des Christkinds" - oder aber, das war das Wunderbarste, was geschehen konnte, es scholl aus der Tiefe ihrer schwarzen Ledertaschen heraus plötzlich ein kleiner Trompetenstoß oder ein Harmonikaton, der sofort wieder verstummte und einfach nicht mehr zu erwecken war.
Das schönste in diesen Wochen bleib aber das geheimnisvolle Arbeiten - dürfen für andere. O, diese Abende voll Überlegens und Besprechens, voll Geheimnistuerei, was die Eltern anbelangte und wieder untereinander!
Mutter hatte etwas Prächtiges ersonnen! Damit wir ja unsere kleinen Geheimnisse gut hüten konnten, wurden im Wohnzimmer vermittelst einer spanischen Wand und verschiedener Ofenschirme kleine Kojen gemacht. Hier durften wir, gesichert vor neugierigen Blicken, basteln und arbeiten. Freilich nicht immer ging’s friedlich zu, wenn begehrliche Hände herübergriffen nach dem Leim, dem Radiergummi oder der Schere. Aber die Hauptsache: man konnte die Überraschungen für die Eltern hier in Muße ausarbeiten.
Man brauchte aber auch Ruhe und Ungestörtheit; denn es war feste Regel, dass kein Geschenk mehr kosten dürfte als drei Kreuzer und dass es etwas Selbstgefertigtes sein musste. Da galt´s, seinen ganzen Verstand und sein Können zusammenzunehmen; aber es entstanden auch die wunderbarsten Kunstwerke: kleine geklebte Schächtelchen mit der Inschrift
"aus Libe" darauf; ein aus einem Bilderbogen ausgeschnittener Reiter, der einen Bleistift als Lanze und eine Stopfnadel als Säbel hatte; rührende Stecknadelkisschen, mit aus Wolle gehäkelten Spitzchen darum; gestrickte Läppchen, mit welchen Vater sein Rasiermesser abputzen sollte, und aus Perlen eingefasste Ringe.
Beneidenswert prachtvoll schien auch die Arbeit einer meiner Schwestern. Sie hatte sich eine Locke abgeschnitten und diese unter ein von Papier ausgeschnittenes Netz geklebt. Zog man diese in die Höhe, so wurde die blonde Locke sichtbar, was wir nie genug bewundern konnten, und außen herum hatte sie noch kleine Blümchen von buntem Papier aufgeklebt. Ob wohl je in irgendeiner Werkstätte der Welt mit so viel Hingebung und Glück im Herzen gearbeitet wurde wie hier?
Und dicht dabei, nur über eine Wand hinüber, saßen die Eltern. Vater las die Zeitung, Mutter hinwiederum tat auch etwas, was wir unsererseits nicht sehen durften - sie machte neue Kleidchen für unsere Puppen. Das ahnten wir, und gespannt lauschten wir auf das Rascheln der Schere und auf das Knistern der Seide. Zum Entzücken aber war es, wenn plötzlich über dem Rand der spanischen Wand blitzartig ein Puppenköpfchen erschien, von dem wir zu unserem Jammer aber kaum die Umrisse erkennen konnten. Oder, wenn auf einmal drüben solch ein Puppenkind sich vergaß und einen quiekenden Ton von sich gab oder gar "Papa - Mama" sagte. Geheimnisse, Geheimnisse...